Mein Jahr in Indien:
Spät abends kam ich zusammen mit meinem Mit-Freiwilligen Sebastian am Flughafen in Kalkutta an und wurde gleich von dem Wagen, der uns abholen sollte, überrollt ... Gott sei Dank nur emotional. Das Auto war nämlich vollgepackt mit Indern, die uns (bis auf einen), zwar noch nie gesehen hatten, uns aber trotzdem mit voller Freude Blumenkränze über den Kopf warfen und mit Rosen bestückten.
Verstörend ging es weiter, als das randvolle Vehikel in Richtung künftige Heimat brauste, denn Verkehrsregeln schien es hier nicht zu geben. So erfuhr ich z.B. gleich, dass das Rot der Ampeln lediglich der Straßenbeleuchtung und die durchgezogenen weißen Linien nur als Verzierungen auf dem sonst so monotonen Asphalt dienen. Das war allerdings noch harmlos im Vergleich zur Ankunft an der Projektstelle selbst. Nach dem Verlassen des Autos ging es nämlich direkt über die engen Gassen des Slums weiter, wo ich zahlreiche Kinderhände schütteln durfte, durch einen fast schon spaltartigen Hauseingang, der mich dann in ein dunkles geländerloses Treppenhaus führte, das zur Straße hin offen war und aus unbedecktem grauem Beton bestand. Einige Stufen später wurden wir dann vorbei an dem großen blauen HELGO NORTH POINT Schild und den Büroräumen der NGO zu unseren Zimmern geleitet. Weder die schlecht funktionierende Toilettenspülung noch die Vorstellung mit diversen insektenartigen Schlafgenossen das Bett teilen zu müssen, konnten an dem Gefühl von Zufriedenheit und Vorfreude etwas ändern, das mich nun überfiel: Der Zufriedenheit, nun endlich angekommen zu sein, und die Freude, diese komplett andere Welt, die ich bei meiner Ankunft eher als Zuschauer einer Fernsehdokumentation denn als interaktives Mitglied wahrgenommen habe, kennen lernen zu dürfen.
Nach kurzer musikalischer Unterbrechung meiner Tiefschlafphase durch das 04:00 Uhr-Gebet des benachbarten Muezzins, wurde ich am nächsten Morgen meinen 20 Mitbewohnern vorgestellt - bzw. sie stellten sich mir vor. Mit fünf indischen Kindern an jeder Hand und einer weiteren riesigen Packung Herzlichkeit wurden wir in einen der beiden Hostelräume geführt, die als Schlaf-, Spiel- und Studierzimmer dienen.
Es dauerte Tage meine Umwelt als tatsächliche Realität wahrzunehmen, Wochen um mich daran zu gewöhnen und Monate bis diese völlig neue Umgebung zum Alltag geworden war. Doch es passierte. Im fahrenden Bus wurde die Hitze zur Zudecke, der Lärm zur Gute-Nacht-Musik und die vielen Schlaglöcher zu Schlaflöchern, die mich sanft meinen Träumen entgegen wiegten. Genauso löste der Lungi immer mehr die Hose ab, die rechte Hand Messer und Gabel und die linke Hand das Toilettenpapier. Dass mich die Menschen auf der Straße anstarrten oder mir „Hey Großer“ hinterher riefen, bemerkte ich irgendwann gar nicht mehr. Und die Unbedarftheit der Touristen, die auf alle Standardabzocken hereinzufallen schienen, brachte mich zum Lachen und ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass das auch einmal bei mir gewirkt hat. (Bis mich Sebastian daran erinnerte, dass wir einmal dem Rikschafahrer den doppelten Preis gezahlt haben, weil er uns weisgemacht hatte, dass wir ja schließlich auch zwei Personen waren...). Auch die Kinder die uns am Anfang nur als „brother“ titulierten, wurden tatsächlich unsere kleinen Brüder.
Doch auch der Himmel der Euphorie, die mich die ersten Monate alles als wunderbar sehen ließ, klärte sich und all die Schwierigkeiten, denen man sich immer wieder aufs Neue stellen musste, erschöpften mich. Deshalb wusste ich gegen Ende des Jahres, obwohl der Gedanke die Kinder verlassen zu müssen, schmerzte, dass es Zeit war zu gehen. Wieder musste ich meine Familie und meine Heimat zurücklassen – nur dieses Mal war sie indisch.
Simon Sperling