Wie in der letzten Information bereits vermutet, wurde die seit dem 24. März bestehende Ausgangssperre verlängert mit der Konsequenz, dass die Väter und fast alle Mütter unserer Familien weiterhin keine Arbeit und somit auch keinerlei Einkommen haben.
Zu allem Unglück wurden Kalkutta und große Teile des Bundesstaates West Bengalen vor gut zwei Wochen auch noch von dem Wirbelsturm „Amphan“ heimgesucht, dem bislang heftigsten in dieser Region. Windböen von fast 200 km/h verbunden mit massivem Niederschlag, der das Wasser in den Slums schnell bis über Kniehöhe ansteigen ließ, haben viele der notdürftig errichteten Hütten stark beschädigt oder z. T. ganz hinweg gefegt. Herab gerissene Stromleitungen haben große Ängste ausgelöst, da von mehreren durch Stromschlag getöteten Menschen berichtet wurde. Zum Glück ist in unserem Umfeld niemand zu Schaden gekommen.
Am folgenden Morgen haben unserer Mitarbeiter, die in erreichbarer Nähe wohnen — alle übrigen können nicht zu uns kommen, da keine öffentlichen Verkehrsmittel verkehren und die Bewegungsfreiheit wegen der Ausgangssperre stark eingeschränkt ist — versucht, sich ein Bild von den Zerstörungen zu machen. Bambusstangen und feste Planen wurden soweit als möglich beschafft und den Familien zum Wiederaufbau der Hütten zur Verfügung gestellt. Eine Herkulesaufgabe unter den lock-down-Bedingungen! Wie uns am Dienstag bei der wöchentlichen Telefonkonferenz von unseren indischen Mitarbeitern berichtet wurde, konnten die Arbeiten zumindest soweit abgeschlossen werden, dass der in etwa zwei Wochen beginnende jährliche Monsun mit seinen heftigen Niederschlägen wohl keinen zusätzlichen großen Schaden mehr anrichten kann.
Zurück zur Corona-Problematik: Die verordnete Ausgangssperre wurde erneut bis zum 8. Juni verlängert. Ab 9. Juni sollen alle Menschen mit einem festen Arbeitsplatz wieder an ihrem Arbeitsplatz erscheinen. Wie das umgesetzt werden kann, ist heute noch völlig unklar. Denn wenn Busse und Bahnen dann auch wieder fahren sollten, ist die Einhaltung der Abstandsregel, die weiter gefordert wird, bei den Menschenmassen unmöglich.
Obwohl das öffentliche Leben ab der kommenden Woche langsam wieder hochgefahren wird, wird es noch lange dauern, bis die Tagelöhner wieder Arbeit finden können. Diese Situation wird uns vor neue Herausforderungen stellen.
Sollten erste Tagelöhner gelegentlich wieder Arbeit finden, werden viele andere noch keine Möglichkeit zum Geld verdienen haben. Wie werden dann die Nahrungsmittel gerecht verteilt werden können? Menschen gewöhnen sich schnell an Hilfe und haben die Tendenz, noch mehr zu erwarten. Das Herunterfahren der Hilfen wird für uns eine sozial schwer zu lösende Aufgabe werden, bei der sich so manche Familie unfair behandelt fühlen wird. Aber ich bin mir sicher, dass unsere Sozialarbeiter gute Wege finden werden.
Die Schulen bleiben bis mindestens Ende Juni weiter geschlossen. Unsere Lehrer sind aktiv und versuchen möglichst viele Schüler mit Aufgaben zu versorgen. Unter den häuslichen Bedingungen der Kinder ist das nicht einfach.
Die allgemeine öffentliche Stimmung hat sich in unserem Bereich glücklicherweise deutlich gebessert. Während die Polizei zu Beginn der Ausgangssperre hart und manchmal brutal agierte, ist das inzwischen kaum noch der Fall. Unsere Mitarbeiter haben einen guten Kontakt zur Polizei gesucht und arbeiten mit dieser nun gedeihlich zusammen.
Seien Sie auch im Namen des Vorstandes herzlich gegrüßt und bleiben Sie wohlbehalten.
Ihr
H. Meyer-Hamme