Hamburg, 23.04.2020
Vor einem Monat wurde von der indischen Regierung die Lockdown-Regelung angeordnet. Welch schlimme Konsequenzen sich daraus für die Familien unserer Projektkinder sowie für zigtausende ärmster Familien ergeben, haben Sie aus der ersten Information vom 5.4. erfahren.
Heute möchte ich Ihnen über die Entwicklung in den letzten drei Wochen berichten, auch wie es unseren Kindern und deren Familien geht.
Wie beschrieben, war als Folge des Lockdown allen Familien völlig unerwartet jede Verdienstmöglichkeit entzogen worden. Was bislang tagsüber verdient wurde, reichte gerade für das Abendbrot und den nächsten Tag. Dieses Leben - sozusagen "von der Hand in den Mund’ - war und ist vorläufig vorbei. Die Hand bleibt leer.
Die von der Polizei teils mit grober Gewalt durchgesetzten massiven Beschränkungen der Bewegungsmöglichkeiten und des öffentlichen Lebens wurden zum Alltag.
Wie schon berichtet, haben wir für die Familien unserer Projektkinder und eine Anzahl weiterer extrem armer Familien Essensgutscheine ausgegeben. Das war eine große Hilfe. Da die Zeit des Lockdown bis zum 4. Mai verlängert wurde, reichte das natürlich nicht. Am vergangenen Wochen- ende haben wir die nächste Essengutschein- aktion gestartet, und es wird sicher nicht die letzte gewesen sein.
Die Verteilung der Gutscheine jeweils einzeln an über 150 Familien gestaltete sich wegen der strikten Ausgangssperre erneut als sehr schwierig, aber unsere Mitarbeiter und die älteren Projektkinder waren clever genug, es zu bewerkstelligen.
Natürlich gibt es inzwischen in der Nachbarschaft Menschen, die mit dem Corona-Virus infiziert sind, und es werden täglich mehr. Unser Viertel wurde zur Roten Zone erklärt. Das hat am vergangenen Freitag vom Lockdown vorübergehend zum Lockin geführt, also einem totalen Ausgangsverbot. Das wiederum wurde am Folgetag von der Bevölkerung - im Gegensatz zu den Tagen zuvor - mit einem Male nahezu unbeachtet gelassen. Zwar huschten die Menschen beim Erscheinen der mit Stöcken bewaffneten Polizei in die Häuser, kamen aber kurze Zeit später wieder heraus. Stunden später wurden einige Bereiche plötzlich kurzfristig abgeriegelt. So wechselt die Situation von Tag zu Tag, manchmal von Stunde zu Stunde. Die Verunsicherung, Ängste und schlimme Gerüchte treiben gerade bei den Menschen, die in ihrem Leben nie eine Chance auf Bildung bekommen haben, ein böses Spiel.
Die Regierung von West Bengalen sowie auch einige lokale Organisationen helfen mit Lebensmitteln. Es werden Kartoffeln, Dal und Reis verteilt. Einerseits ist es lückenhaft, andererseits erhalten nur die Familien eine staatliche Unterstützung, die ein offizielles staatliches Dokument besitzen. Sehr viele der Ärmsten, oft sind sie ja Landflüchtlinge, haben aber keinerlei Papiere, und das bedeutet für diese noch eindeutiger: Hungern. Da die Corona-Krise in Indien erst jetzt beginnt so richtig Fahrt aufzunehmen, sind ernsthafte Sorgen auch des sozialen Friedens berechtigt.
Die indische Projektleitung, Sebastian Leidig und ich haben diese Woche in einer Telefon-Konferenz die Situation und mögliche Hilfen diskutiert und werden das regelmäßig fortsetzen. Vor Ort erlaubt die derzeitige Lage praktisch keine Außer-Haus-Aktivitäten, aber etliche Familien sind doch telefonisch erreichbar. So wollen wir versuchen, irgendwie so etwas wie Schulunterricht, gerade für die älteren Kinder, zu organisieren.
Uns sind natürlich auch Familien bekannt, in denen es schon früher durch zumeist betrunkene Väter zu häuslicher Gewalt gekommen war. Auch hier kann telefonischer Kontakt den Betroffenen (hoffentlich) etwas helfen.
Im Juni sollen angeblich die Schulen wieder öffnen. Wir warten sehnlichst darauf, aber viel wahrscheinlicher ist, dass wir noch lange darauf warten müssen.
Mit Dank für Ihre wohlwollende Begleitung grüßt Sie im Namen des Vorstandes
Ihr H. Meyer-Hamme