Der Lockdown in Indien soll derzeit noch bis zum 17. Mai andauern. Da unsere Familien allerdings in einer sog. „roten Zone“ leben, ist dort mit einer Verlängerung ziemlich sicher zu rechnen. Das bedeutet, dass es bis auf weiteres für die ärmsten Menschen keine Möglichkeit geben wird, als Tagelöhner außerhalb des Hauses Arbeit zu finden und somit Geld für das Nötigste zu verdienen. Was das bedeutet, konnten Sie schon in den letzten Informationen lesen.
Im vorigen Bericht hatte ich schon von beginnendem zivilen Ungehorsam berichtet. Wir waren in großer Sorge, wie sich dies bei der äußerst angespannten, ja verzweifelten Situation vieler Menschen weiter entwickeln wird. Am 28. April hat sich dann lokal eine plötzliche Entladung der aufgestauten Spannungen ereignet. Eine Frau, die auf der Straße von einem Polizisten wegen der fehlenden Gesichtsmaske geschlagen worden war, begann laut zu schreien. Es kamen schnell viele, viele Menschen hinzu und in Windeseile eskalierte die aggressive Stimmung derart, dass die Polizisten selbst körperlich angegriffen wurden. Eine Gruppe zunächst unbeteiligter Polizisten, die sich dort aufhielt, konnte nur noch davonlaufen, gefolgt von wütenden und Steine schmeißenden Männern. All das wurde mit dem Handy aufgenommen und war, wie das heute so ist, noch am selben Abend in den lokalen Fernsehnachrichten zu sehen. Am nächsten Morgen rückten daraufhin einige Hundertschaften der Polizei an und viele Menschen wurden offenbar wahllos verhaftet. Eine weitreichende Eskalation der Gewalt war nun unmittelbar zu befürchten. In dieser kritischen Situation haben noch am Mittag desselben Tages Vertreter mehrerer Nicht-Regierungs-Organisationen, so auch aus unserem Projekt, zusammen mit einigen lokalen Politikern um ein Gespräch mit der Polizeiführung nachgesucht. Das Ergebnis dieses Gespräches grenzt für mich fast an ein Wunder. Die Strategie der polizeilichen Kontrolle des Lockdown wurde sofort geändert. Statt mit Stockschlägen wurde plötzlich eine liberal ausgeführte Kontrolle ausgeübt. In den Folgetagen gelang es darüber hinaus, viele Menschen von der Notwendigkeit einer friedlichen Zusammenarbeit mit der Polizei zu überzeugen, und so ereignete sich dann nach vier Tagen folgendes erstaunliche Ereignis: Die zuvor in die Flucht geschlagene Polizei wurde von einer großen Menschenmenge mit Klatschen und Blumen willkommen geheißen. Das dazu gehörige Video habe ich erhalten. Es hat mich tief berührt, wie es gelungen ist, durch Anwendung sozialer Verantwortung, Mut und Umsicht auf beiden Seiten die befürchtete Eskalation der Gewalt zu vermeiden.
Das alles ändert an der Grundproblematik natürlich nichts, denn die Menschen haben kein Geld, brauchen aber etwas zum Essen.
Vor einer Woche startete unsere dritte Gutscheinaktion. Die Lebensmittelgutscheine, die in bestimmten Lebensmittelläden eingelöst werden können, konnten in der nunmehr entspannteren Situation leichter an die Familien verteilt werden. Die Anzahl der besonders notleidenden Familien, die neben unseren eigentlichen Projektfamilien Unterstützung mit Nahrung bekommen, haben wir noch einmal deutlich auf jetzt 100 erweitert.
In diesem Zusammenhang haben wir eine seit mehr als 20 Jahren geltende Regel außer Kraft gesetzt. Es war bei uns immer ein absolutes No Go, den Familien bares Geld in die Hand zu geben. Aber es ist jetzt offensichtlich: Wovon sollen in dieser Situation, in der einfach kein Geld vorhanden ist, zum Beispiel notwendige Arzneien, Brennmaterial zum Kochen oder auch nur Gewürze, um die Grundnahrungsmittel zu einem schmackhafteren Essen zubereiten zu können, gekauft werden? Jede unserer Projektfamilien hat nun zusätzlich 300 Rupien in bar erhalten, die allerdings nur an die Mütter ausgezahlt wurden.
Unsere sehr aktive Schulleitung hat begonnen, den Schülern der Klassen 6 bis 12 per Handy Schulaufgaben zu geben. Das ist mühsam und erreicht auch längst nicht alle Schüler, aber ein Anfang ist gemacht. Den jüngeren Kindern vom Kindergartenalter bis zur Klasse 5 versuchen wir durch Verteilung von Farbstiften, Papier und einfachen Spielen die Zeit des Lockdown zu erleichtern.
Dass sich unsere älteren Projektkinder helfend engagieren, hatte ich bereits berichtet. Besonders gefreut hat mich in den letzten Wochen die spontane Aktivität von Vikram, ein jetzt 20-jähriger ehemaliger Projektjunge, der kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Maschinenbauingenieur steht. Er hat in seiner kleinen Hütte eine Klasse eingerichtet, in der er täglich 7 Schüler unterrichtet. Dieses Vorgehen mag sich außerhalb der Lockdown-Regeln befinden, aber in einem Slum, wo die Menschen sowieso extrem eng beieinander wohnen, macht das kaum einen Unterschied.
Unsere Sozialarbeiter stehen in regelmäßigem, meist telefonischen Kontakt mit den Kindern und deren Familien. Bemerkenswert ist die Beobachtung, dass sich die häusliche Gewalt innerhalb der Familien in der ersten Zeit der absolute Ausgangssperre wohl in Grenzen gehalten hat. Deutlich zugenommen hat sie dann schlagartig nach Öffnung der Alkoholläden vor gut einer Woche. Ein Trauerspiel!
Wir danken für die große Unterstützung, die wir erhalten haben. Wir haben diese als Nahrungsmittelhilfe zum Überleben der Menschen nach Kalkutta weitergeleitet und werden die Hilfe so lange fortsetzen, bis die Familien sich wieder selbst durch die Arbeit der Väter und Mütter ernähren können.
Auch im Namen des Vorstandes grüßt Sie herzlich
Ihr Dr. H. Meyer-Hamme